Bestimmung der Restnutzungsdauer von Gebäuden: ERAB-Verfahren
Einleitung
Anlässlich des Erfahrungsaustauschs des Instituts für Liegenschaftswerte habe ich im Oktober 2023 über eine mögliche Herangehensweise zur Erhöhung der Absetzung für Abnutzung (AfA) durch Nachweis einer kürzeren Nutzungsdauer referiert. Eigentümer vermieteter Objekte können mit entsprechendem Nachweis so ihre Steuerlast senken.
Auslöser dieser Neubetrachtung des bisherigen Vorgehens war ein Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 22. Februar 2023. Über mehrere Wochen habe ich mich intensiv in diesem Zusammenhang mit dem Verfahren zur Ermittlung des Abnutzungsvorrats von Baustoffen (ERAB) auseinandergesetzt, welches häufig zur Instandhaltungsplanung herangezogen wird.
Gesetzliche Grundlage
Im Einkommensteuergesetz (EStG) wird im §7 die Absetzung für Abnutzung oder Substanzverringerung geregelt. Im Absatz 4 Satz 2 heißt es „so können anstelle der Absetzungen nach Satz 1 die der tatsächlichen Nutzungsdauer entsprechenden Absetzungen für Abnutzung vorgenommen werden“.
Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 28. Juli 2021 (Aktenzeichen IX R 25/19, BFH/NV 2022, S. 108) hat zur Rechtssicherheit geführt. Steuerpflichtige können sich für die Berufung auf eine kürzere tatsächliche Nutzungsdauer des Gebäudes jeder geeigneten Darlegungsmethode bedienen, soweit daraus Rückschlüsse auf maßgebliche Determinanten möglich sind.
Rückblick: bisheriges Vorgehen bei der Erstattung eines „RND-Gutachtens“
Eigentümer:innen haben in der Vergangenheit ein Gutachten über die Restnutzungsdauer (RND) eines vermieteten Objekts in Auftrag gegeben und bei Vorliegen einer kürzeren Restnutzungsdauer als der für die Abschreibung anzusetzende Zeitraum eine Erhöhung des AfA-Satzes bezogen auf den verkürzten Restnutzungszeitraum beantragt.
Vom Ablauf her war das Vorgehen ähnlich wie bei der Erstattung eines Verkehrswertgutachtens nach §194 BauGB, jedoch mit geringerem Umfang des Gutachtens und häufig endend mit der Bestimmung und Würdigung der modifizierten Restnutzungsdauer.
Im Ortstermin wurden durchgeführte Modernisierungen erfasst und entsprechend die Modernisierungspunkte vergeben. Sachverhalte ohne bisherige Modernisierung wurden ebenfalls bepunktet, sofern sie aus technischer und wirtschaftlicher Sicht voll funktionsfähig sind, um eine zu kurze RND zu vermeiden.
BMF-Schreiben vom 22. Februar 2023
Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) führt in seinem Schreiben vom 22. Februar 2023 aus, dass für die Rechtfertigung einer AfA nach der kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer entscheidend ist, ob das Gebäude vor Ablauf des AfA-Zeitraums objektiv betrachtet technisch oder wirtschaftlich verbraucht ist. Die kürzere tatsächliche Nutzungsdauer ist prognostisch zu bestimmen, technische und wirtschaftliche Umstände sind zu berücksichtigen.
Einflussfaktoren und maßgebliche Kriterien für Schätzung einer kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer sind: technischer Verschleiß, wirtschaftliche Entwertung und rechtliche Gegebenheiten, welche die Nutzungsdauer eines Gegenstands begrenzen können. Ausgangspunkt für die Beurteilung des technischen Verschleißes ist die Nutzungsdauer der Tragstruktur des Bauwerks: Dachkonstruktion, tragende Innen- und Außenwände, Geschossdecken, Fundament.
Erforderlich für eine Verkürzung der Restnutzungsdauer ist, dass der technische Verschleiß der Tragstruktur das Gebäude in seiner Gesamtheit in seiner Nutzungsfähigkeit beeinträchtigt. Eine wirtschaftliche Entwertung kann nur zugrunde gelegt werden, wenn das Gebäude vor Ablauf der technischen Nutzungsdauer objektiv wirtschaftlich verbraucht ist. Die Möglichkeit einer wirtschaftlich sinnvollen (anderweitigen) Nutzung oder Verwertung muss endgültig entfallen sein.
Als Nachweis dient ein Gutachten eines ö.b.u.v. Sachverständigen für die Bewertung von bebauten und unbebauten Grundstücken oder einer Person mit Zertifizierung nach DIN EN ISO/IEC 17024. Das Gutachten ist auf technische Sachverhalte abzustellen:
- Tragstruktur bzgl. Nutzungsdauer darstellen
- Begründung, warum am Ende der kürzeren Nutzungsdauer keine wirtschaftlich sinnvolle (anderweitige) Nachfolgenutzung mehr möglich
- Begründung, warum kein Restwert mehr vorhanden ist
Der Nachweis des technischen Verschleißes kann z. B. über ein Bausubstanzgutachten nach dem ERAB-Verfahren erfolgen (nicht zwingend erforderlich, es liefert jedoch hilfreiche Anhaltspunkte für die Beurteilung).
Der Wichtigkeit halber noch einmal:
Zwingend sind
- Gutachtenzweck: Nachweis der kürzeren tatsächlichen Nutzungsdauer
UND
- Berücksichtigung aller maßgeblichen Determinanten (technisch, wirtschaftlich, legal)
UND
- Erörterung einer mögliche Nachfolgenutzung und deren Auswirkung auf die Nutzungsdauer
Als nicht hinreichend wird der Nachweis über die Restnutzungsdauer mittels einem Verkehrswertgutachten oder der Nachweis über die modifizierte Restnutzungsdauer bei Modernisierungen nach der ImmoWertV angesehen.
ERAB-Verfahren zur objektiven Bestimmung des IST-Zustands
Das ERAB-Verfahren (Verfahren zur Ermittlung des Abnutzungsvorrats von Baustoffen) bietet eine Methode zur objektiven Bestimmung des IST-Zustands von Bauelementen eines Gebäudes. Durch die Charakterisierung des Abnutzungsvorrats und die objektive Ermittlung eines quantitativen Wertes für den aktuellen Abnutzungsvorrat kann mit qualitäts- und schadensbezogenen Merkmalen die Mindestqualität eines Bauelements definiert werden. Dieses Verfahren ermöglicht eine nachvollziehbare Berechnung des vorhandenen Abnutzungsvorrats, häufig wird es zur Instandhaltungsplanung herangezogen.
Bei Anwendung des ERAB-Verfahrens wird ein System zur Ermittlung des Abnutzungsvorrats aufgestellt, je nach Baustoff geeignete Merkmale bestimmt und die Gesamtabnutzung ermittelt. Unterschieden werden vier verschiedene bauspezifische Merkmalsklassen, baustatisch, chemisch/biologisch/physikalisch, bauphysikalisch sowie optisch. Für diese werden jeweils qualitäts- und schadensbezogene Merkmale definiert.
Die Struktur ist hierarchisch aufgebaut, und in vier Schritten wird die Gesamtabnutzung je Baustoff ermittelt.
Aufgrund der je nach Situation vor Ort doch ggf. recht umfangreichen Aufnahme des Objekts während des Ortstermins wird empfohlen, systematisch die Bauelemente der Tragstruktur zu betrachten und die Bestandsaufnahme vorzunehmen. Hierfür sollten vorab Erfassungsdatenblätter in elektronischer Form erstellt werden, die in ihren Details an die jeweiligen Baustoffspezifika angepasst werden.
Lokal begrenzte Intensivschäden gilt es hierbei besonders zu betrachten. Zwar ist das durchschnittliche Ausmaß eines lokal begrenzten Intensivschadens in Relation zur Gesamtfläche meist klein, die Schwere des Schadens hingegen relativ groß.
Praktische Aspekte in der Betrachtung des technischen Verschleißes
Wenn in der Gutachtenerstellung das ERAB-Verfahren zur Anwendung kommen soll, dann empfiehlt es sich, aufgrund der ggf. umfangreichen Bestandsaufnahme der Tragstruktur des Objekts gut vorbereitet und strukturiert an diese heranzugehen.
Es sind weder die Bestandsaufnahme vor Ort noch die Gutachtenausarbeitung zeitlich zu unterschätzen. Auch sollte im Vorfeld geklärt bzw. gescreent werden, ob der Ersteindruck der relevanten Bauteile der Tragstruktur als „erfolgsversprechend“ im Sinne einer hohen Gesamtabnutzung eingestuft werden kann. Auch eine hinreichende Zugänglichkeit der Bauelemente ist wichtig, ebenso die schnelle Überprüfung hinsichtlich eventueller KO-Kriterien für die Tragfähigkeit.
Ausblick
Derzeit (11/2023) kann noch nicht hinreichend die Reaktion der Finanzämter in Bezug auf die Umsetzung des BMF-Schreibens mangels Erfahrungswerte abgeschätzt werden. Es gibt noch keine sich häufenden Meldungen, wonach Finanzämter die bisherige ausschließliche Evaluierung einer wirtschaftlichen Entwertung nicht anerkennen. Ob und wann sich das ändert, gilt es zu beobachten.